Menschen mit ADHS haben viele Stärken und tolle Eigenschaften. Darunter fallen Ideenreichtum, Kreativität und Spontaneität.
Sie sind begeisterungsfähig, oft gut in Krisen, sind loyal und intuitiv. Sie blicken häufig über den Tellerrand hinaus, sehen Muster, wo andere Chaos sehen. Sie können über mehrere Themen gleichzeitig reden und wenn sie etwas interessiert, haben sie eine schnelle Auffassungsgabe und große Fähigkeit sich mit Haut und Haar in etwas hinein zu begeben.
Aber ADHS hat auch eine andere Seite. Eine, deren Auswirkungen mit Schmerz, Scheitern und Hilflosigkeit in allen Lebensbereichen einhergehen. Je nach Ausprägung und Persönlichkeit kann ADHS sehr belastend sein.
Die gute Nachricht ist: Veränderung ist möglich!
Wenn wir lernen ADHS zu managen, können wir uns zunehmend auf unsere Stärken konzentrieren und ein erfülltes Leben leben. Sich über die Hintergründe und vielen Gesichter von ADHS zu informieren ist ein wichtiger Schritt dorthin.
In diesem Artikel findest du meine ADHS Basics und einen Überblick über das, was die meisten Betroffenen erleben. Ich bin keine Medizinerin. Am Ende des Artikels gebe ich Fachliteraturempfehlungen, falls du dich tiefergehend über ADHS informieren möchtest.
Inhaltsverzeichnis
- Was ist ADHS?
- Was passiert bei ADHS im Gehirn?
- Wer hat ADHS?
- Was können Symptome von Erwachsenen mit ADHS sein?
- Ist es immer ADHS?
- Was beutetet Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung?
- Wie sieht Hyperaktivität aus?
- ADHS oder ADS?
- Wo kann ich einen ADHS Test machen?
- Ist ADHS vererbbar?
- Was hilft bei ADHS nach neueren Erkenntnissen?
- Was sagen Fachpersonen über ADHS?
- Buchtipps
Was ist ADHS?
Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist eine genetisch bedingte , neurobiologische Entwicklungsverzögerung, die zu einer anderen Vernetzung im Gehirn führt und deren Auswirkungen sich bis ins Erwachsenenalter ziehen können. Sie zeichnet sich unter anderem durch Schwierigkeiten der Selbstregulierung, der Aufmerksamkeitslenkung und durch Ablenkbarkeit aus.
Eine ausführliche Auflistung findest du weiter hier im Artikel unter „Häufige Symptome bei Erwachsenen mit ADHS“. Äußerliche Hyperaktivität ist übrigens überhaupt kein Muss. Wer ADHS hat kann überbordend aktiv sein, aber auch verträumt oder schwer in Gang zu bekommen. Oder alles nacheinander.
Was passiert bei ADHS im Gehirn?
Die Kommunikation zwischen und innerhalb von Gehirnarealen funktioniert nicht so wie bei der Mehrheit der Menschen. Botenstoffe (vorwiegend Dopamin und Noradrenalin) werden nicht ausreichend oder unter anderen Bedingungen weitergeleitet. Dadurch ist die Informationswahrnehmung und -verarbeitung eingeschränkt.
Insbesondere das Frontalhirn ist betroffen. Hier werden eine Menge wichtiger Funktionen gesteuert. Dazu gehören u.a.: Aufmerksamkeitslenkung, Planung, Priorisieren, Arbeitsgedächtnis und Emotionsregulation. Aus diesem Grunde wird in der Behandlung und im Coaching darauf abgezielt, diese Funktionen zu maximieren.
In bildgebenden Verfahren hat man nachgewiesen, dass das Gehirn von Personen mit ADHS sich strukturell von Gehirnen von Personen ohne ADHS unterscheidet (Thomas E. Brown, ADHS bei Kindern und Erwachsenen – eine neue Sichtweise, Hogrefe). Das bedeutet, dass es eine Viezahl von Vernetzungen nicht ausgebaut hat, wie ein Gehirn ohne ADHS.
Wer hat ADHS?
Es betrifft nicht wie früher angenommen nur Kinder, bzw. Jungs. ADHS finden wir weltweit in allen Geschlechtern, allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen. Die Symptome beginnen in der Regel im Kindesalter (insbesondere bei Mädchen und Frauen werden sie oft erst später bemerkt).
Bei vielen Betroffenen bleibt die ADHS im Erwachsenenalter bestehen. Nicht selten wird sie von Kompensationstechniken oder psychischen Begleiterkrankungen verdeckt, was den Diagnostikprozess erschwert und zu häufigen Fehldiagnosen und fehlenden Antworten auf oft lebenslange Fragen führt.
Wie hoch der Anteil der Erwachsenen mit ADHS in der Bevölkerung ist, ist schwer zu sagen. Studien nennen Zahlen zwischen 2,5 und 8 oder mehr Prozent. Die meisten davon ohne zu wissen, das es einen Namen gibt für ihre oft lebenslangen Herausforderungen.
Was können Symptome von Erwachsenen mit ADHS sein?
Wer ADHS hat, hat nicht zwingend mit all diesen Themen zu kämpfen oder darunter zu leiden.
- Schnell oder andauernd stark überfordert (evtl. nur die Abwehrmechanismen sichtbar)
- schlecht priorisieren können, Desorganisation (teilweise kippt es in überkorrekten Organisierungsdrang (Kontrolle behalten))
- Aufschieben (Prokrastination)
- Dinge anfangen, durchhalten, beenden nicht leicht bis scheinbar unmöglich
- Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen (Wut, Frust, Angst)
- (Arbeits-)Gedächtnisprobleme
- Energie- und Stimmungsschwankungen
- Vergesslichkeit
- Verzetteln, Zerstreutheit
- Schlechtes Zeitmanagement
- Innerer Zeitdruck
- Häufiges Zuspätkommen
- Anderes/fehlendes Zeitgefühl
- Impulsivität (Sprechen, Handlungen und Gedanken)
- Hyperaktivität (äußere und/oder innere Unruhe)
- Antriebslosigkeit/Motivationsprobleme
- Herabgesetzte Selbstwahrnehmung
- Fokus aufbauen, halten und umlenken schwierig
- Ablenkbarkeit
- Ungeduld; Schwierigkeiten, Belohnung aufzuschieben
- Einschlaf- oder Durchschlafprobleme
- Selbst-Hygiene und andere Routinen evtl. erschwert
- erhöhte Angst vor Ablehnung/Kritik
- Schwarz-Weiß-Denken
- Grübeln, Ängste
- Soziale Interaktionen herausfordernd (z.B. durch Ungeduld, Probleme Freundschaften aufzubauen oder zu pflegen, nicht verstehen, dass Freundschaft sich langsam aufbaut)
ADHS liegt auf einem Spektrum. Viele Menschen würden sagen, sie kennen auch Momente, in denen sie überfordert sind oder sie haben Probleme Emotionen zu kontrollieren. Es gibt auch viele Menschen, die sehr nah an einer ADHS Persönlichkeit sind. Da sie aber im Leben gut zurecht kommen, liegen sie auf diesem Spektrum vielleicht einfach knapp daneben. Dann nennt man es nicht ADHS.
Je nach Ausprägung und Kompensationsstrategien wirkt ADHS sich mehr oder weniger stark auf das Leben, die Arbeit und die Beziehungen erwachsener Personen aus. Erst, wenn das eigene Leben oder das des nahen Umfelds längerfristig in Mitleidenschaft gezogen wird, und wenn andere Ursachen ausgeschlossen wurden, können wir von einer ADHS sprechen.
Ist es immer ADHS?
Schlafmangel, Trauma, Schilddrüsenerkrankungen, Depression u.a. können ähnliche Symptome wie ADHS hervorrufen. Für eine differenzierte Diagnose ist es wichtig, diese Dinge auszuschließen. Natürlich können auch mehrere Diagnosen nebeneinander bestehen. Ob ADHS oder nicht – darüber entscheidet dann auch die Biografiearbeit – Wie lange bestehen die Probleme schon? Was war zuerst da? – und ob Symptome bleiben, wenn z.B. ein Schlafmangel behoben wurde. Aber Achtung! ADHS kann auch Ursache für Ein- oder Durchschlafprobleme sein! Depressionen können neben einer ADHS bestehen, sind aber auch nicht selten durch sie ausgelöst.
Was bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung?
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist zur Zeit der wissenschaftlich-medizinische Begriff für dieses komplexe Phänomen. Konzentrationsschwierigkeiten und somit die Schwierigkeit, Aufmerksamkeit zu halten, können durch zu wenig Stimulation des Gehirns entstehen. Um die Botenstoffe ausreichend weiterleiten zu können, damit eine Handlung entsteht oder Aufmerksamkeit bestehen bleibt, braucht das ADHS-Gehirn mehr Stimulation (Begeisterung, Motivation, Interesse aus sich heraus.)
Es braucht, wenn es nicht gerade begeistert voll in ein Thema eintaucht, eventuell aber auch häufiger kleine Pausen. Personen mit ADHS haben aber oft kein Defizit an Aufmerksamkeit. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Dadurch entsteht Ablenkbarkeit oder Empfindlichkeit gegenüber Reizen, die andere Personen ausblenden können.
Soll ein Mensch mit ADHS über Vernunft, Fleiß oder guten Willen Konzentration aufbauen, bzw. halten, reicht die Botenstoffproduktion nicht aus, um die entsprechenden Areale im Gehirn zu aktivieren: der Verstand (und oft auch die Tätigkeit) wandert oder die Person wird müde, ungeduldig bis hin zu aggressiv.
Wobei die Ungeduld und die Aggression wieder als Aktivator für das Gehirn dienen, um ein unangenehmes Gefühl der Unterstimulierung zu beenden. Blödsinn machen oder andere zu provozieren, fallen auch unter diese Kategorie.
Da regelmäßig auch die Kommunikation unter verschiedenen Hirnarealen eingeschränkt ist, ist mangelhafte Selbstwahrnehmung ein häufiges Phänomen bei ADHSler*innen. Also Aufmerksamkeit für das zu haben, was jemand gerade denkt, fühlt oder tut. Darum ist das Training der Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit ein wichtiger Faktor im ADHS-Managment.
Wie sieht Hyperaktivität aus?
Die Hyperaktivität beschränkt sich nicht nur auf Herumlaufen oder zappelig sein. Es kann sich insbesondere bei Erwachsenen auch durch innere Rastlosigkeit, rasende Gedanken, viel Sprechen oder kleinere äußerliche Bewegungen (Knie wippen, Finger tippen) und „rumfummeln“ an Gegenständen zeigen.
Vielleicht sind die Personen aber auch ständig auf Achse. Die äußerliche Hyperaktivität ist wie eine Art der Selbstmedikation. Durch die körperliche Bewegung, wird das Gehirn stimuliert und eine Person kann dann zum Beispiel besser denken, zuhören oder warten.
ADHS oder ADS?
Nach dem international verwendeten Diagnosekatalog DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) präsentiert ADHS sich in drei Formen: Das vorwiegend unaufmerksames Erscheinungsbild (eher verträumt und äußerlich nicht so bewegt), den kombiniertes Erscheinungsbild (unaufmerksame und hyperaktive Symptome) und das vorwiegend hyperaktive/impulsive Erscheinungsbild (ich muss mich bewegen, um denken zu können).
ADS ist heute kein medizinischer Begriff mehr. Aber viele Menschen, die nicht äußerlich hyperaktiv sind, finden sich in dieser Bezeichnung besser wieder. Insbesondere im Englischen werden in der Alltagssprache beide Abkürzungen abwechselnd benutzt. Nach DSM-V wäre ADS zur Zeit also: ADHS im vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbild.
Wo kann ich einen ADHS Test machen?
Ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten sowie Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, für psychosomatische Medizin oder für Neurologie können ADHS diagnostizieren, wenn sie entsprechend fortgebildet sind. Es gibt auch Spezialambulanzen für Erwachsene mit ADHS. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig herauszufinden, wie die Person zu ADHS steht und ob sie sich wissenschaftlich auf dem Laufenden hält.
Ist ADHS vererbbar?
Ja. Viele Erwachsene erfahren, dass sie ADHS haben, wenn ihre Kinder diagnostiziert werden, weil sie sich in den Symptombeschreibungen wiedererkennen.
Durch diese erbliche Komponente gibt es meistens innerhalb einer Familie mehrere Personen mit dieser besonderen Gehirnvernetzung. Zehn bis 35 Prozent der biologischen Verwandten von Kindern mit ADHS sind ebenfalls betroffen. Wenn ein Elternteil ADHS hat, haben 40 bis 57 Prozent der leiblichen Kinder ebenfalls ADHS. (Diese Zahlen habe ich aus Russell A. Barkleys Buch Das große Handbuch für Erwachsene mit ADHS.)
Die Stärke der Ausprägung kann durch Umweltfaktoren (wie Erziehung, Bewegung, Unterstützung) beeinflusst werden. Nicht erbliche Faktoren für die Möglichkeit als Kind. ADHS Symptome zu entwickeln oder zu verstärken sind: Schädel-Hirn-Trauma, geringes Geburtsgewicht, Alkohol oder Nikotin in der Schwangerschaft, chaotisches Zuhause, mangelnde Förderung.
Was hilft nach neueren Erkenntnissen bei ADHS?
Nach dem aktuellen Stand der Forschung ist ein multimodaler Ansatz am Erfolg versprechendsten. Dieser besteht aus Medikation, Therapie und Coaching (immer ADHS spezifisch).
Nicht jede:r entscheidet sich für Medikamente. Nicht jede:r benötigt sie. Zudem ist es in Deutschland auch immer noch nicht leicht, eine qualifizierte Diagnostik mit anschließender, individueller Behandlung zu bekommen. Es ist ganz individuell, ob jemand Coaching und/oder Therapie in Anspruch nehmen möchte und was Personen brauchen, um das eigene Leben bewusst gestalten zu können.
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ADHS ist viel komplexer als diese vier Buchstaben es ausdrücken können – sowohl in den Schwierigkeiten, als auch in den Stärken, die sich aus der anderen Vernetzung des Gehirns ergeben können.
Ich hoffe, ich konnte dir einen guten Überblick über ADHS verschaffen.
Kathryn Rohweder, ADHS Coach
Was sagen Fachpersonen über ADHS?
Dr. med. Doris Ryffel-Rawak (ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert, 4. Auflage, 2017): „Obwohl kein Labortest zur Diagnosenstellung zur Verfügung steht, (…) kann von einer biologischen Grundlage ausgegangen werden. ADHS betroffene Menschen weisen Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebenssituationen auf und diese betreffen nicht nur die Menschen selber, sondern auch seine Angehörigen und nächsten Bezugspersonen.“
Dr. Dipl.-Psych. Roy Murphy von der Schön Klinik Bad Bramstedt (frei zitiert aus dem Podcast “ADHS bei Erwachsenen”, You Tube, Kanal Schön Klinik, 2019): “ADHS ist eine Normvariante im Gehirn, eine neurobiologische Auffälligkeit, bzw. Entwicklungsverzögerung, die sich in der Regel bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. Es kann mit vielen Schwierigkeiten einhergehen. Erst wenn hier ein Leidensdruck entsteht, sprechen wir von ADHS.”
Psychotherapeutin Sari Solden und klinische Psychologin Dr. Michelle Frank (A Radicial Guide for Women with ADHD, 2019, New Harbinger Publications): “Bei ADHS handelt es sich nicht unbedingt um ein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern vielmehr um ein Problem bei der Regulierung verschiedener Aspekte von Kognition, Emotion und Verhalten.(…)ADHS ist ein lebenslanges, neurobehaviorales, genetisches Syndrom, das zu strukturellen, chemischen und Erregungsunterschieden im Gehirn führt, die sich in der Folge auf das so genannte „exekutive Funktionssystem“ des Gehirns auswirken.”
Ned Hallowell, Psychiater (Ned Hallowell, John Ratey, Zwanghaft Zerstreut, rororo, 1999) “ADHS ist für viele Menschen eine Eigenschaft, eine Art, in der Welt zu sein. Es wird zu einer Störung, wenn diese Eigenschaften das Leben einer Person beeinträchtigen. Wenn der Einzelne lernt, mit den Aspekten, die es zu einer Störung machen, umzugehen und sie zu kontrollieren, beginnt er, die vielen Gaben und Talente zu nutzen, die in seinem überschäumenden Geist „eingebettet“ sind.”
Buchempfehlungen:
Russell A. Barkley, Das große Handbuch für Erwachsene mit ADHS, Hogrefe
Dr. med. Doris Ryffel-Rawak, ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert, Hogrefe
Heiner Lachenmeier, Mit ADHS erfolgreich im Beruf: So wandeln Sie vermeintliche Schwächen in Stärken, Springer
Sari Solden and Michelle Frank, A Radical Guide for Women with ADHD: Embrace Neurodiversity, Live Boldy, and Break Through Barriers, New Harbinger
Thomas E. Brown, ADHS bei Kindern und Erwachsenen – eine neue Sichtweise, Hogrefe
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