Wir schauen uns gemeinsam an, warum Menschen mit ADHS oft Schwierigkeiten haben, ein stabiles Gefühl von Sicherheit zu entwickeln, welche Faktoren im Alltag dazu beitragen und was wir konkret tun können, um wieder mehr Halt zu finden. Dabei fließen sowohl meine eigenen Erlebnisse als auch Impulse aus meiner Coaching-Praxis mit ein.
Warum fühlen sich Menschen mit ADHS oft unsicher?
Unsicherheit ist bei ADHS keine Seltenheit, sondern häufig ein Begleiter im Alltag. Doch warum ist das so? Die Gründe sind vielfältig und hängen mit den typischen Herausforderungen zusammen, die ein ADHS-Gehirn mit sich bringt. Ich möchte hier einige wesentliche Punkte beleuchten, die bei mir selbst und meinen Klienten immer wieder auftauchen.
1. Schwierigkeiten im Umgang mit Zeit und Selbstorganisation
Viele Menschen mit ADHS kennen das Gefühl, „nicht hinterherzukommen“. Die To-do-Listen wachsen ins Unermessliche, und die Zeit scheint nie auszureichen, um alles zu schaffen. Oft wird nur das erledigt, was gerade spannend oder interessant erscheint, während andere wichtige Aufgaben liegen bleiben oder aufgeschoben werden.
Dieses Gefühl, keine Kontrolle über die Zeit zu haben, führt zu Stress, Druck und nicht selten auch zu Scham. Man fragt sich: „Warum kriege ich das nicht hin? Bin ich faul oder einfach unfähig?“ Diese inneren Zweifel nähren das Gefühl von Unsicherheit und machen es schwer, sich selbst zu vertrauen.
Hinzu kommt, dass viele mit ADHS nicht genau wissen, was von ihnen erwartet wird oder wie viel Arbeit tatsächlich zu bewältigen ist. Manchmal traut man sich nicht, nachzufragen, aus Angst vor Ablehnung oder Kritik. Diese Unklarheit erschwert es zusätzlich, den Überblick zu behalten und sorgt für ein instabiles Gefühl im Job oder im Alltag.
2. Perfektionismus und Angst vor Fehlern
Ein weiteres großes Thema ist der Wunsch, alles perfekt zu machen – ein Ziel, das für viele mit ADHS unerreichbar scheint. Die Angst vor Fehlern, Ablehnung oder Kritik führt dazu, dass man Aufgaben entweder selbst erledigen will, um sicherzugehen, dass alles „richtig“ läuft, oder sie so lange aufschiebt, bis der Druck unerträglich wird.
Diese innere Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und der Überforderung durch die vielen Anforderungen ist ein Nährboden für Unsicherheit. Man fühlt sich ständig auf der Hut, nie wirklich entspannt oder zufrieden.
3. Rückmeldungen und Bestätigung
Viele Menschen mit ADHS sind auf externe Rückmeldungen angewiesen, um sich sicher zu fühlen. Da sie oft selbst nicht genau einschätzen können, ob ihre Arbeit oder ihr Verhalten „gut genug“ ist, suchen sie Bestätigung von außen. Kommen diese Rückmeldungen nicht oder sind sie negativ oder ausbleibend, steigt das Gefühl der Unsicherheit weiter an.
4. Überforderung und Reizüberflutung
Der Alltag mit ADHS kann schnell überfordernd werden – zu viele Eindrücke, zu viele Aufgaben, zu viel Chaos. Das belastet nicht nur die Psyche, sondern auch das Nervensystem, das in ständiger Alarmbereitschaft ist. Diese dauerhafte Anspannung macht es schwer, zur Ruhe zu kommen und ein Gefühl von Sicherheit zu entwickeln.
5. Unsicherheit in sozialen Beziehungen
Auch im sozialen Umfeld kann Unsicherheit eine große Rolle spielen. Wer impulsiv reagiert, sich oft missverstanden fühlt oder Schwierigkeiten hat, Freundschaften zu pflegen, erlebt häufig ein Gefühl der Isolation oder des Andersseins. Das sogenannte Masking – also das Verbergen der eigenen ADHS oder anderer neurodivergenter Eigenschaften – kann kurzfristig Sicherheit verschaffen, langfristig aber das Gegenteil bewirken, weil es Energie kostet und die Selbstakzeptanz beeinträchtigt.
6. Unsicherheit im physischen Umfeld
Ein chaotisches oder unübersichtliches Zuhause kann ebenfalls das Gefühl von Unsicherheit verstärken. Wenn die Wohnung mehr Baustelle als Rückzugsort ist, wird es schwer, innere Ruhe und Stabilität zu finden. Gerade wir mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, Strukturen im Wohnraum zu schaffen und zu halten, was sich direkt auf das Sicherheitsgefühl auswirkt.
7. Finanzielle Unsicherheiten
Ein weiterer Faktor, der oft unterschätzt wird, ist die finanzielle Situation. Viele mit ADHS haben Schwierigkeiten, ihre Finanzen zu ordnen oder einen Überblick zu behalten. Das kann zu Stress und Unsicherheit führen, insbesondere wenn das Einkommen schwankt oder unerwartete Ausgaben auftreten.
Wie äußert sich Unsicherheit konkret im Alltag mit ADHS?
Unsicherheit zeigt sich bei uns oft nicht nur als abstraktes Gefühl, sondern durch ganz konkrete Situationen und Verhaltensweisen. Ich möchte dir einige Beispiele geben, die viele aus meiner Coaching-Praxis kennen:
Prokrastination und Feuerlöschen: Statt die wichtigen Aufgaben systematisch anzugehen, wird meist nur reagiert, wenn „Feuer am Dach“ ist. Das schafft ein Gefühl von Chaos und Kontrollverlust.
Entscheidungsschwierigkeiten: Die Angst, die falsche Wahl zu treffen, führt oft zu Aufschieben oder Vermeiden von Entscheidungen.
Perfektionismus und Kontrollzwang: Der Versuch, alles selbst zu machen und perfekt zu gestalten, um Sicherheit zu gewinnen, führt zu Überlastung und Erschöpfung.
Scham und Selbstzweifel: Fehler oder vermeintliches Versagen werden stark bewertet, was das Selbstvertrauen untergräbt.
Vermeidungsverhalten: Aus Angst vor Ablehnung oder Kritik werden soziale Kontakte oder neue Herausforderungen gemieden.
Chaos im Wohnraum: Unordnung und offene Baustellen im Zuhause verhindern, dass man sich wirklich entspannen kann.
Finanzielle Unsicherheit: Fehlender Überblick über Einnahmen und Ausgaben sorgt für Stress und Zukunftsängste.
Diese Situationen verstärken sich oft gegenseitig und können zu einem Teufelskreis aus Unsicherheit und Überforderung führen.
Was kann helfen, um das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zu stärken?
Auch wenn es oft schwierig erscheint, gibt es viele Strategien und Ansätze, um wieder mehr Sicherheit in das Leben mit ADHS zu bringen. Ich teile hier meine wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen, die ich selbst anwende und die sich in der Arbeit mit meinen Klienten bewährt haben.
1. Selbstakzeptanz und liebevoller Umgang mit sich selbst
Der erste und wichtigste Schritt ist, sich selbst so anzunehmen, wie man ist – mit all den Herausforderungen und Stärken, die das ADHS-Gehirn mit sich bringt. Das bedeutet, sich von unrealistischen Erwartungen zu verabschieden und Fehler nicht als Versagen, sondern als Teil des Lernprozesses zu sehen.
Ein liebevoller und geduldiger Umgang mit sich selbst reduziert Druck und Scham und schafft eine Grundlage für mehr innere Sicherheit. Das kann durch Affirmationen, achtsame Selbstgespräche oder das Hören von unterstützenden Podcasts und Austausch mit Gleichgesinnten gestärkt werden.
2. Struktur schaffen – aber realistisch und flexibel
Strukturen und Routinen geben Orientierung und Sicherheit, gerade im Alltag. Dabei ist es wichtig, dass diese Strukturen zu dir und deinem Leben passen und nicht zu starr oder überfordernd sind.
Praktische Tipps:
Arbeite mit Kalendern und To-do-Listen, aber überlade sie nicht.
Setze Prioritäten und lerne, auch mal „Nein“ zu sagen.
Nutze klare Labels und Aufbewahrungssysteme, um den Überblick zu behalten.
Baue feste Rituale ein, zum Beispiel für Mahlzeiten oder Pausen.
Ich selbst habe erlebt, wie mir mein Kalender und ein gut organisiertes To-do-Management viel Sicherheit geben. Gleichzeitig weiß ich, dass mein Gehirn immer wieder aus der Bahn geraten kann – und das ist okay.
3. Das Nervensystem regulieren
Ein überreiztes oder gestresstes Nervensystem verhindert innere Ruhe und Sicherheit. Deshalb ist es essenziell, Wege zu finden, um dich regelmäßig zu beruhigen und ins Hier und Jetzt zu bringen.
Effektive Methoden sind:
Meditation und Atemübungen
Qi Gong oder sanfte Bewegung
Aktivitäten, die dich erden, wie Bogenschießen oder Spaziergänge in der Natur
Das bewusste Wahrnehmen des Körpers und der eigenen Gefühle
Ein kleiner Trick, der mir persönlich oft hilft: Wenn ich mich unsicher fühle, lege ich meine Hand auf die Brust und sage mir innerlich: „Ich bin sicher.“ Das hat eine beruhigende Wirkung und bringt mich zurück ins Gefühl von Stabilität.
4. Den Umgang mit Unsicherheit üben
Unsicherheit lässt sich nicht immer sofort beseitigen. Ein wichtiger Schritt ist, sie anzunehmen und auszuhalten, ohne sofort in Angst oder Aktionismus zu verfallen.
Frage dich:
Wo spüre ich die Unsicherheit im Körper?
Kann ich diese Empfindung einfach wahrnehmen, ohne sie zu bewerten?
Wie fühlt sich das an, wenn ich mich darauf einlasse?
Diese Achtsamkeit schafft Abstand zu den Angstgedanken und reduziert ihre Macht. Gleichzeitig entwickelst du so mehr Resilienz und Selbstvertrauen im Umgang mit Unsicherheit.
5. Soziale Unterstützung und Austausch
Ein stabiles soziales Umfeld ist eine wichtige Ressource für Sicherheit. Suche dir Menschen, bei denen du dich verstanden und akzeptiert fühlst, und pflege diese Beziehungen.
Der Austausch mit anderen Betroffenen, etwa in Communities oder Gruppen, kann dir zeigen, dass du nicht allein bist und dass viele ähnliche Herausforderungen meistern.
6. Kleine Schritte statt großer Sprünge
Es ist verlockend, sofort alles ändern zu wollen – die Wohnung aufräumen, das Zeitmanagement optimieren, die Finanzen ordnen und mehr. Doch das kann schnell überfordern und das Gegenteil bewirken.
Wähle lieber einen Bereich, der dir besonders wichtig ist, und arbeite dort in kleinen, realistischen Schritten. So kannst du Erfolge erleben, die dein Sicherheitsgefühl stärken und Motivation für weitere Veränderungen geben.
7. Umgang mit dem physischen Umfeld
Ein aufgeräumtes und strukturiertes Zuhause kann ein echter Ruhepol sein. Wenn du Schwierigkeiten hast, Ordnung zu halten, probiere folgende Ansätze:
Schaffe dir klare Ablageorte für wichtige Dinge.
Nutze geschlossene Möbelstücke mit Labels, um den Überblick zu behalten.
Plane regelmäßige kleine Aufräumzeiten ein, anstatt alles auf einmal zu wollen.
Erlaube dir, dass nicht alles perfekt sein muss.
8. Finanzielle Klarheit schaffen
Finanzielle Unsicherheit ist ein großer Stressfaktor. Für viele mit ADHS ist es hilfreich, die Finanzen zu strukturieren und regelmäßig zu überprüfen.
Das kann bedeuten:
Einfaches Budgetieren mit Apps oder Tabellen
Automatisierte Zahlungserinnerungen oder Daueraufträge
Externe Hilfe durch Beratung oder Coaching
Bewusstes Auseinandersetzen mit Einnahmen und Ausgaben
Auch wenn es anfangs mühsam erscheint, verschafft dir finanzielle Übersicht ein wichtiges Gefühl von Kontrolle und Sicherheit.
Mein persönlicher Umgang mit Unsicherheit und Sicherheit
Als Erwachsene mit ADHS kenne ich das Auf und Ab mit dem Sicherheitsgefühl sehr gut. Ich befinde mich gerade in einer hormonellen Phase, in der sich meine ADHS-Symptome verstärken und mein Gefühl von Sicherheit wieder mehr ins Wanken gerät. Das ist normal und gehört zum Leben mit ADHS dazu. Ich übe gerade, mich weiter sicher zu fühlen, auch wenn sich Herausforderungen verändern.
Ich habe gelernt, dass ich immer wieder kleine Systeme schaffen muss, die mir Halt geben – und gleichzeitig Übungen, die mich ins Hier und Jetzt und in meinen Körper bringen. Zum Beispiel hilft mir Atemarbeit sehr, um mich zu regulieren. Auch das bewusste Wahrnehmen meiner Gefühle und Gedanken ist für mich ein wichtiger Baustein.
Gleichzeitig erlaube ich mir, Phasen zu haben, in denen ich weniger produktiv bin, in denen ich Dinge liegen lasse oder mich überfordert fühle. Das gehört dazu und ist kein Zeichen von Schwäche.
Ein Beispiel: Ich habe mein Schlafzimmer gestrichen, um mir eine Ruhehöhle zu schaffen. Leider hat die Farbe einen unangenehmen Geruch, der mich daran hindert, den Raum zu nutzen. Das hat mich verunsichert und erschöpft. Doch ich weiß, dass ich das lösen kann – Schritt für Schritt. Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche, und setze mich nicht zusätzlich unter Druck. Es ist wie es ist.
Fazit: Sicherheit im Leben mit ADHS ist möglich
Ein stabiles Gefühl von Sicherheit im Leben mit ADHS zu entwickeln, ist eine Herausforderung, die viele von uns kennen. Die typischen Schwierigkeiten mit Zeitmanagement, Selbstorganisation, sozialen Beziehungen, dem physischen Umfeld und finanziellen Themen führen oft zu Unsicherheit und Stress.
Doch es gibt Wege, diese Unsicherheit zu überwinden oder zumindest besser damit umzugehen:
Akzeptiere dich selbst und dein neurodivergentes Gehirn.
Schaffe realistische Strukturen und Routinen, die dir Halt geben.
Reguliere dein Nervensystem durch Atemübungen, Meditation oder Bewegung.
Lerne, Unsicherheit auszuhalten und nicht sofort lösen zu müssen.
Pflege soziale Kontakte und suche Austausch mit Gleichgesinnten.
Arbeite in kleinen Schritten an den Bereichen, die dir wichtig sind.
Strukturiere dein Zuhause so, dass es ein Rückzugsort wird.
Verschaffe dir finanzielle Klarheit und Kontrolle.
Erlaube dir, immer wieder Phasen zu haben, in denen es nicht perfekt läuft, und sei geduldig mit dir selbst. Das Leben mit ADHS ist ein Prozess, in dem du Schritt für Schritt mehr Sicherheit und Kontrolle gewinnen kannst – auch wenn der Weg manchmal holprig ist.
Wie geht es dir mit dem Thema Sicherheit im Leben mit ADHS?
Ich lade dich ein, deine Erfahrungen, Fragen oder Gedanken zum Thema Sicherheit und Kontrolle gerne mit mir zu teilen. Schreib mir eine Nachricht oder hinterlasse einen Kommentar. Der Austausch kann uns alle stärken und ermutigen.
Wenn du Interesse hast, dich noch intensiver mit ADHS-Themen auseinanderzusetzen, findest du in meiner Community auf Steady einen geschützten Raum für Coaching, Austausch und regelmäßige Treffen. Dort unterstützen wir uns gegenseitig auf dem Weg zu mehr Selbstakzeptanz und Lebensqualität.
Bleib dran, sei geduldig mit dir – und vergiss nicht: Du bist nicht allein, und es gibt immer Wege, mehr Sicherheit in dein Leben zu bringen.
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